Obwohl das neue Jahr noch recht jung ist, zeichnen sich am Horizont schon recht deutlich die Perspektiven, Entwicklungen und Trends ab, die 2019 im Bereich Virtual Reality bestimmend sein werden. Heute treten wir jedoch ausnahmsweise mal ein wenig auf die Bremse und legen den Rückwärtsgang ein, indem wir einen Blick zurück in die Evolutionsgeschichte der virtuellen Realität werfen und uns vor allem mit deren aus heutiger Sicht zum Teil doch recht obskuren Auswüchsen in den 1990er-Jahren beschäftigen – a real blast from the past!
Gameboys, Grunge und….“eine transzendentale, elektronische Realität“
Die 90er – ein Jahrzehnt voll bizarrer Gegensätze. Während wir unsere drängendsten Fragen in Sachen Sexualität selbstverständlich ausschließlich an Dr. Sommer richteten, unsere ach so heißgeliebten Digital-Haustiere namens Tamagotchi und Furby uns in Wirklichkeit in den Wahnsinn trieben, die große Schwester jedes Wochenende auf Raves war und der ewig missverstandene Bruder sich in seinen ausgeleierten XXL-Shirts und Karohemden zu „Alice in Chains“ in seinem Zimmer einschloss, befand sich Deutschland noch im Freudentaumel der langersehnten Wiedervereinigung. Wer Anschluss an das World Wide Web suchte, um sich mit in grellen Neonfarben blinkenden Websites ein wenig die Augen zu verderben, tat dies vermutlich mithilfe des damaligen Internet-Giganten AOL – in diesem Zusammenhang unvergessen dürfte auch der längst zum Retro-Kult gewordene 56k-Modem-Einwahlsound sein.
Nachdem der Begriff Virtual-Reality, der sowohl als Konzept als auch als Forschungsgegenstand aber natürlich schon viel früher existierte, im Jahr 1987 erstmals im Oxford English Dictionary erwähnt und dort als
[…] computer-generated simulation of a three-dimensional image or environment that can be interacted with in a seemingly real or physical way by a person using special electronic equipment, such as a helmet with a screen inside or gloves fitted with sensors
definiert wurde, war es Mitte und Ende der 1980er-Jahre vor allem die NASA mit ihren zahlreichen staatlich finanzierten Projekten, die wesentlich zur Entwicklung von Virtual-Reality-Technologien beitrug. Die Forschungsbereiche umfassten Computergrafik, vernetzte Umgebungen und Simulation. Schon 1985 beauftragte die NASA das erst ein Jahr zuvor gegründete Unternehmen VPL Research des VR-Pioniers Jaron Lanier, der nicht selten als „Vater der VR“ bezeichnet wird, beispielsweise mit der Entwicklung eines Datagloves für Astronauten. Der Datenhandschuh, dessen Entwicklung ein Jahr in Anspruch nahm, war nach seiner Fertigstellung das erste kommerzielle Tech-Gadget dieser Art, kostete 9000 Dollar und inspirierte Mattel 1989 dazu, den bis heute legendären Power Glove für Nintendos NES (Nintendo Entertainment System) auf den Markt zu bringen – das erste tatsächlich erschwingliche VR-Device für den Hausgebrauch.
Das zweite Gadget, das Lanier in diesem kurzen Video präsentiert und das später noch offiziell auf der Texpo Telecommunications Show in San Francisco vorgestellt werden sollte, ist das sogenannte – man lese, staune und schmunzele – EyePhone, ein HMD, das zumindest schon in der Lage war, die Kopfbewegungen des Trägers nachzuvollziehen. Da am Ende jedoch schlichtweg niemand das Geld hatte, um die von VPL Research entwickelten Gadgets zu kaufen, die Forschung und Entwicklung gleichzeitig aber weiterhin immense Summen verschlang, musste das Unternehmen 1993 bereits Konkurs anmelden.
Der Dataglove wurde 1990 dann schließlich Bestandteil der ebenfalls von der NASA entwickelten VIEW (Virtual Interface Environment Workstation), die es Mechanikern erlauben sollte, via Telepräsenz Reparaturen an einer Weltraumstation vorzunehmen. Ein Prinzip beziehungsweise eine Einsatzmöglichkeit von VR und AR, die uns in der heutigen digitalisierten (Arbeits-)Welt durchaus bekannt vorkommen sollte.
Im Jahr 1992 ging Louis Rosenberg in den Armstrong-Labs der US-Luftwaffe sogar noch einen Schritt weiter und entwickelte mit dem Virtual Fixtures-System nicht nur ein komplettes Oberkörper-Exoskelett, sondern das erste vollständig immersive Augmented-Reality-System, um die sensorische Erfahrung innerhalb der virtuellen Realität noch zu intensivieren.
Science Fiction trifft Realität oder: Willkommen in der CAVE
Eine weitere Möglichkeit, in virtuelle Welten abzutauchen und dabei einen für die damalige Zeit sehr hohen Immersionsgrad zu erreichen, entwickelten der Kunstprofessor Daniel Sandin zusammen mit den Informatikern Tom DeFanti und Carolina Cruz-Neiradas im Rahmen eines Dissertations-Projektes im Chicago Electronic Visualization Laboratory der Universität von Illinois schließlich im Jahre 1992. Bei der sogenannten CAVE (Cave Automatic Virtual Environment), die immer wieder mit dem Holodeck aus der Kult-Serie Star Trek verglichen wird, handelt es sich um ein System, bestehend aus mehreren (bis zu sechs), senkrecht zueinander stehenden Projektionsebenen. Die so projizierten 3D-Bilder umgeben den Anwender dergestalt, dass er das Gefühl hat, sich in einem separaten Raum – oder besser wie es der Name ja auch schon sagt – in einer Höhle zu befinden. Dieser Ansatz innerhalb der VR-Technologie erwies sich letztlich sogar als so interessant, dass er bis heute weiterentwickelt und erforscht wird. Unlängst stellte die weltweit agierende, ursprünglich aus Koblenz stammende Ehrhardt + Partner Gruppe zum Beispiel ein speziell für den Logistik-Bereich entworfenes CAVE-System vor, das es bis zu 12 Nutzern erlaubt, ganz ohne den Einsatz einer VR-Brille, logistische Prozesse zu visualisieren, zu simulieren und damit besser planen zu können.
Die Anfänge des VR-Gamings
Doch nicht nur in der Forschung der 1990er-Jahre spielte VR eine wichtige Rolle, sondern schickte sich gleichzeitig an, auch in der Spieleindustrie einen Siegeszug anzutreten und zwar sowohl im heimischen Bereich als auch auf dem öffentlichen Entertainment-Sektor, der nach einem deutlichen Rückgang des Booms Ende der 1980er dank der VR-Technologie nun ein Comeback erfuhr.
Fest mit dieser Renaissance verbunden war die aus dem mittelenglischen Leicester stammende, von Jonathan D. Waldern 1985 als W Industries gegründete Virtuality Group, die eine Reihe von VR-Systemen auf den Markt brachte, unter anderem eine komplette Mini-Arena, die einem etwas zu klobig geratenem Trainingsgerät im Fitnessstudio ähnelte sowie eine Maschine, in die man sich wie in ein Cockpit hineinsetzen konnte. Zahlreiche Unternehmen, unter anderem British Telecoms, waren stark an der Technologie interessiert, um sie zu Schulungszwecken einzusetzen, doch trotz des später noch folgenden Projektes „Elysium“, bei dem VR für Architektur- und Konstruktionsanwendungen eingesetzt wurde, war Waldern in erster Linie darauf fokussiert, mit seinen Entwicklungen die Spieleindustrie zu erobern.
Ungeachtet der Tatsache, dass die virtuelle Realität zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal in den Kinderschuhen steckte, sondern sozusagen gerade erst das Krabbeln lernte, verfügten Walderns Spieleautomaten bereits über eine vergleichsweise hohe Leistungsfähigkeit. Die Sichtfeldweite der Virtuality-Brillen lag zwar nur bei etwa 60 Grad, dafür waren die Systeme zum Teil aber untereinander vernetzt und ermöglichten es damit mehreren Spielern gleichzeitig, am Spiel teilzunehmen. Die Spiele konnten mit einer unter 50 Millisekunden liegenden Latenz nahezu in Echtzeit gespielt werden. Allerdings hatte diese Technik auch ihren Preis: Während herkömmliche Arcade-Automaten im Schnitt mit 5000 US-Dollar zu Buche schlugen, mussten die Spielhallenbetreiber in ein Virtuality-System bis zu 75.000 US-Dollar investieren.
Heute befinden sich die Automaten entweder im Besitz von VR-Sammlern, die sie aufwändig und liebevoll restauriert haben, oder sind im Retro Computer Museum in Leicester ausgestellt. 2017 portierte ein Indie-Entwickler einen der Virtuality-Klassiker, „Dactyl Nightmare“, für die Oculus Rift.
VR für den Heimgebrauch: Die Headsets von Sega und Nintendo
Der japanische Spiele- und Konsolenhersteller SEGA kündigte nach dem Erfolg seiner Sega Mega Drive (in Nordamerika unter dem Namen Sega Genesis bekannt) 1991 ein VR-Headset mit integriertem Headtracker an, das dann Anfang des Jahres 1993 schließlich auch auf der CES offiziell vorgestellt wurde. Zwar erschien 1994 mit Sega VR-1 eine Spielhallenversion des Geräts, doch diese enttäuschte grafisch mit angestaubter Optik und mäßigem Spielspaß. Das auf der CES präsentierte Gerät schaffte es hingegen nie über den Prototypen hinaus und wurde angeblich aufgrund möglicher Verletzungsgefahren nicht für die Öffentlichkeit freigegeben.
Auch dem Hersteller NINTENDO, der 1995 mit dem Virtual Boy in den Virtual-Reality-Markt einstieg, war mit seinem Gerät leider kein sonderlich großer Erfolg beschieden beziehungsweise spricht man im Zusammenhang mit der Geschichte des Unternehmens bis heute sogar von dessen größtem Flop. Im Gegensatz zu dem von Sega geplanten Headset wurde es zwar releast – es war aber kein Headset im eigentlichen Sinne, sondern verfügte über einen Ständer, den man auf dem Tisch platzierte, um in das Headset zu blicken. Darüber hinaus hatte das Gerät einen angeschlossenen Controller zur Bedienung, wodurch die Freiheit des Users bereits durch die reine Physis des Geräts stark eingeschränkt wurde – enttäuschend vor allem deswegen, da das Gerät zuvor vollmundig als erste tragbare 3D-Spielekonsole angekündigt wurde und man als User außerdem bereits verwöhnt war vom 1989 erschienenen Game Boy. Darüber hinaus konnte das Gadget zu allem Überfluss lediglich monochrome schwarz-rote Grafiken darstellen und war damit für einen deutlich höheren Preis qualitativ schlechter aufgestellt als das damalige Flaggschiff des Konzerns, das SNES (Super Nintendo Entertainment System). Erst im Juni 1996 gelang es Nintendo schließlich, mit einer 3D-Konsole, nämlich der Nintendo64, die dann auch mit einer ganz anderen Technik arbeitete, Erfolge zu feiern. Gerüchten zufolge soll Nintendo dieser Tage erneut an einem VR-Gadget für die Switch arbeiten, Kenner der Branche halten dies trotz des in der Programmierung einigermaßen gut versteckten VR-Codes allerdings für sehr unwahrscheinlich – wir werden sehen, wer am Ende Recht behält.
Obwohl die in den 90ern entwickelten VR-Systeme und -Headsets insgesamt bei Weitem nicht die von den Konzernen erhofften Erfolge erzielen konnten, was nicht zuletzt natürlich auch an den aufgerufenen Preisen lag, hielt das Interesse, vor allem im Bezug auf die Arcade-Systeme, doch immerhin so lange an, dass man sich im Jahre 2017 dazu entschlossen hat, wieder mit VR-Arcades an den Start zu gehen. Und diesmal tatsächlich scheint es auch so zu sein, dass sich die Arcades langsam aber sicher zu einer festen Größe des Entertainment-Marktes entwickeln und dabei mehr Menschen erreichen, als es VR-Devices für den Hausgebrauch vermögen.
Fiktionale virtuelle Räume
Die Sehnsucht nach der totalen Immersion, die immer mehr zur Realität zu werden schien, sorgte in den 90ern jedoch nicht nur für Spaß und Faszination, sondern löste auch ein tief verwurzeltes Gefühl der Angst und des Unbehagens aus, das seinen Niederschlag und seine Verarbeitung in einem Teil der zeitgenössischen Literatur sowie in diversen Filmen fand. Dabei waren Autoren und Regisseure vor allem an der Frage interessiert, welche negativen Folgen und Probleme im Zusammenhang mit der virtuellen Realität auftreten können und wie die Menschen mit dieser neuen Technologie, die einerseits Grenzen überwindet, andererseits aber auch Neue errichtet, umgehen. Um die beschriebene Situation zu verschärfen beziehungsweise eine völlig neue erzählte Welt zu erschaffen, ist der Ausgangspunkt der filmisch-literarischen Erzählungen nicht selten eine als Dystopie entworfene, globale, virtuelle Online-Welt, so wie in dem jüngsten Science-Fiction-Thriller Ready Player One von Steven Spielberg, der seines Zeichens ebenfalls auf einem 2011 erschienen Roman von Ernest Cline basiert.
Eine besonders eindrucksvolle Geschichte von den Gefahren der Abhängigkeit, gepaart mit der Sucht danach, seine Realität gegen virtuelle Erfahrungen einzutauschen, erzählt William Gibsons bereits 1994 erschienener Roman „Neuromancer“, der bis heute als Grundstein des so genannten Cyberpunk-Genres gilt und das erste Buch der Sprawl-Trilogie war. Der im Roman geschilderte virtuelle Datenraum namens „The Matrix“ wird von zwei mächtigen, künstlichen Zwillingsintelligenzen, Wintermute und Neuromancer, regiert, die außerhalb der Matrix liegende Welt versinkt im kriminellen Chaos.
Auch in Neal Stephensons „Snow Crash“ (1992) fliehen die Menschen angesichts der auf allen gesellschaftlichen Ebenen desolaten Situation, aus der sich der Staat vollständig zurückgezogen hat und in der vollkommene wirtschaftliche Liberalität herrscht, in ein Metaversum, durch das sie sich in Form von Avataren bewegen.
Bei Risiken und Nebenwirkungen…
Auch abseits dieser überwiegend düsteren Fiktionen wurde in den 90ern allerdings auf mögliche Gefahren der VR in Form der so genannten VR-Krankheit oder auch motion sickness, die im Zusammenhang mit der Technologie auch bis heute noch eine Rolle spielt, hingewiesen.
Sah man sich dem Phänomen hier eindeutig noch recht hilflos gegenüber und verglich es sogar mit dem Zustand der Trunkenheit, existieren seit Ende des vergangenen Jahres neben einer Reihe guter Ratschläge, wie sich motion sickness vermeiden lässt, auch zu mehreren gängigen VR-Brillen kompatible, vibrierende Stirnbänder – sogenannte Haptic Feedback Straps – eines chinesischen Herstellers auf dem Markt, die der bei VR-Experiences auftretenden Übelkeit entgegenwirken sollen.
Klar ist: Ohne die grundlegende Pionierarbeit im Bereich der Forschung der 80er und 90er-Jahre wäre die Virtual-Reality technisch heute nicht an dem Punkt, an dem sie sich aktuell befindet. Und so spannend ein Blick in die Vergangenheit auch sein kann – die Zukunft ist noch viel spannender! Bei allen Fragen rund um Virtual-Reality und 360-Grad-Produktionen sind wir Ihr kompetenter Ansprechpartner und freuen uns von Ihnen zu hören!
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