Notes on Blindness VR ist eine interaktive Virtual-Reality-App, die sich am gleichnamigen Dokumentarfilm orientiert – eine Art Video-Logbuch, das die Aufzeichnungen eines Mannes, John M.Hull, beherbergt, der in den frühen achtziger Jahren nach jahrelangem Prozess erblindet und sich dadurch mit (s)einer Reise in die Dunkelheit konfrontiert.
Der Religionswissenschaftler mit Professur an der Universität Birmingham formulierte in einer Art Selbsthilfekonzept über drei Jahre lang ganze sechzehn Stunden Audiomaterial, das als Buch unter dem Titel „Touching the Rock: An Experience on Blindness“ erschien.
Hull beschreibt hier eindringlich, wie sich sein alltägliches Leben mit dem zunehmenden Verlust des Augenlichtes verändert und welchen Einfluss die Angst vor völliger Blindheit auf sein Leben hat. Darüber hinaus beschreibt der Familienvater nicht nur, wie sich Unsicherheit und Irrtum bei der Bewältigung des Straßenverkehrs auswirken, sondern auch die Reaktionen seiner Umwelt: die Ignoranz einiger Mitmenschen oder die sehr schmerzhafte Erfahrung einer Infantilisierung seines Zustandes.
„I knew that if i didn’t understand blindness, it would destroy me.“
John M.Hull
Visuelles Gedächtnis, visuelle Orientierung?
Raum und Verortung nehmen zunehmend eine andere Dimension ein, die Gesichter der vertrauten Menschen verschwinden allmählich, aktualisieren sich nicht mehr: das Hier und Jetzt wird nun zunehmend in einem anderen Kontinuum erlebt, die Beziehung zur Familie nimmt eine andere, neue Form an.
Für uns Sehende kaum vorstellbar. So schlug denn auch der Dokumentarfilm von Pete Middleton und James Spinney hohe Wellen positiver Resonanz und erhielt, neben zahlreichen Nominierungen, den British Independent Film Award. Nebenher hatten sie mehrere Kurzfilme präsentiert, u.a. den Film Radio H. aus der Perspektive von Hulls ältester Tochter Imogen.
Middleton und Spinney wurden zu engen Begleitern der Familie und hatten nun eine Menge Material, mit dem sie kreativ umgehen wollten. Schließlich wagten sie sich im Verbund mit dem Fernsehsender ARTE an ein Virtual-Reality-Projekt: „Notes On Blindness – Into Darkness“ für Samsung Gear VR.
„The rain presents the fullness of an entire situation all at once, not merely remembered, not in anticipation, but actually and now. The rain gives a sense of perspective and of the actual relationships of one part of the world to another.”
John M.Hull
Hull beschrieb seine Erlebnisse auf sehr poetische Weise, reflektierte in die sensuellen Tiefen menschlicher Existenz hinein. Er beschreibt die Auswirkung von bestimmten Träumen, die sein Schicksal konkret abzubilden scheinen oder seine Auseinandersetzung mit Merleau-Pontys Buch Phänomenologie der Wahrnehmung, das ihm hilft, seinen eigenen Zustand zu erkunden. Hull erlebt, dass Berührungen für einen Sehenden nicht dasselbe sind wie für einen Menschen ohne Sehkraft. Fest steht für ihn irgendwann: der Blinde muss sich auf seine verbleibenden Sinne verlassen, wenn er sich mit der Welt verbinden will.
Auf Basis der originalen Aufzeichnungen lässt die VR-App den Viewer an Hulls reichen kognitiven und emotionalen Erfahrungen teilhaben, ihn spüren, wie sich eine Verlagerung visueller Reize auf andere Sinne anfühlt.
Die VR-App wurde als Ergänzung zum Dokumentarfilm und zur Anregung des öffentlichen Diskurses gestaltet und von den Regisseuren des Films in Zusammenarbeit mit Ex Nihilo, Audio Gaming und Archer’s Marc entwickelt. Um eindrucksvolle Orte jenseits des Sichtbaren generieren zu können, kombinierten die Künstler zur Darstellung der Sinnes-Erlebnisse binaurale Audiodaten und 3D-Blaulicht-Animationen.
„This project started when we met directors and writers Peter Middleton and James Spinney who were looking for partners to co-produce their first feature film in the continuity of their award winning short film (also called Notes of Blindness) (…) this is how we discovered the incredible story of John Hull (…) the audiomaterial was incredibly powerful and moving.
Arnaud Colinart, Co-Creative Director/Ex Nihilo
In his diary Hull is talking about the acoustic space and how he is living in what he called a world beyond sight (…) every element appearing in the scene would be linked to sound activity. And we decided to work on this idea of glitch, particle, ghostly images as vanishing memories.“
Ziel der Designer war es, dem Betrachter der App so wenig visuelle Anreize wie möglich zu präsentieren und stattdessen den Fokus der Entwicklung auf binaurales Audio zu legen. Damit sollte der User physiologisch Umstände erfahren, die sein Gehirn zur Rekonstruktion der Bilder anregen würde.
Temporär eine Welt ohne Bilder erleben – das ist, auch wenn es keine universelle Erfahrung einer Erblindung gibt, mit der immersiven Virtual-Reality-App „Notes on Blindness“ ein wenig mehr möglich. Ein wenig besser möglich ist es dadurch auch, die Gesellschaft gegenüber Menschen mit dieser Wahrnehmungs-Einschränkung zu sensibilisieren.
Veränderte Wahrnehmung durch Virtual-Reality-App
In sechs zwanzig-minütigen Kapiteln wird der User langsam an das zunehmende Schwinden seiner Sehkraft gewöhnt. Für Hull waren es viele Lebensjahrzehnte. Er erkrankte früh an grauem Star, erlangte zwischendurch teils mit Hilfe von operativen Eingriffen sein Augenlicht zurück, bis sich die Krankheit wieder durchsetzte, Netzhautablösungen verursachte und schließlich zur vollständigen Erblindung führte.
Die Anwender der App werden herausgefordert, sich mit ihrem Körper auseinanderzusetzen, etwa, wenn sie einer bestimmten Aufforderung nachkommen sollen und plötzlich mit der (physischen) Unmöglichkeit einer Umsetzung konfrontiert sind. Gefühle der Panik und Verwirrung werden evoziert. Die Frage scheint weniger „Wie oder was würde man sehen, wenn man blind ist“ als vielmehr „Wie fühlt sich Blindheit an?“.
“First, I noticed differences of place. Some sounds come from the left of the window, some from the right, and I can trace these as far as the corner of the house and around it. Now I pay attention to the higher sounds, as the rain splatters on the wall above the window and on the roof of the house itself. Below me, the rain falls on to a fence, the shrubbery and on to the ground itself.”
John M. Hull
Hulls Aufzeichnungen sind schon deshalb eine dankbare Grundlage, weil sie eindringlich sind. Sie sind Resultat tiefer Selbst-Beobachtung einer aufmerksamen Seele. Dass die Sehkraft sich aus seinem Leben schlich, musste Hull hinnehmen. Dass sich Wahrnehmung ändert, flexibel sein kann, das ist das Vermächtnis des 2015 verstorbenen Wissenschaftlers, der uns dadurch auch eine andere Dimension zuteil werden lässt: das, was wir sehen und wahrnehmen stärker zu hinterfragen und den kleineren Details unserer Wirklichkeit mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Virtual-Reality-Apps haben das starke Potential, Menschen noch genauer hinsehen zu lassen und immersive Erfahrungswelten zu generieren, die den eigenen Point of View in Frage stellen. Nutzer können Erfahrungen nicht nur mehr passiv erfahren, sondern aktiv erleben. Dieser Umstand ist auch für unsere eigenen Projekte stehts im Vordergrund – nicht zuletzt deswegen haben wir mit der Hyperresponsive-Virtual-Reality-Technologie unsere eigene Storytelling-Plattform entwickelt, mit der wir individuell auf den Anwender zugeschnittene Erfahrungen schaffen können.
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