Memento mori im VR-Zeitalter
Es sind unliebsame, aber doch unumstößliche Wahrheiten: Der Tod gehört zum Leben und früher oder später muss sich jeder von uns mit ihm beschäftigen – ob mit dem eigenen oder aber dem eines geliebten Menschen. Obwohl der Tod auch heute nicht selten noch als gesellschaftliches Tabu-Thema gilt, verrät ein Blick auf die Geschichte der Menschheit, dass jede Kultur und Epoche ihren eigenen Umgang mit dem Tod beziehungsweise dem Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit gefunden hat. Dabei wurde der Antagonismus zwischen Anziehung und Schrecken, den das Abstraktum Tod in sich vereint, mithilfe künstlerischer Auseinandersetzung zu verarbeiten versucht und ihm so eine konkrete Präsenz verliehen.
World Wide Dead – Das Internet als Ort der Trauer
Der Tendenz zu individuellen und oft auch eher ungewöhnlichen Beisetzungen entspricht die Beobachtung vieler Soziologen und Trauerforscher, dass die mit dem Tod eines geliebten Menschen verbundene Trauer häufiger in den digitalen Raum verschoben beziehungsweise ausgeweitet wird. Der Tod als solcher wird damit auch nicht mehr verdrängt, sondern offen und sogar öffentlich thematisiert . Obwohl man selbst weitestgehend anonym bleiben kann, ist man plötzlich mit Anderen – ob Freunden oder Fremden – verbunden, die sich in derselben Situation befinden und mit denen man sich über seine aktuelle Gemütslage, Ängste und Sorgen austauschen kann. In diesem Kollektiv fühlt man sich weniger allein und kann vielleicht sogar Trost und Hoffnung aus den virtuellen Gesprächen schöpfen. Schmerzen, aber auch Erinnerungen an den Verstorbenen werden geteilt, sodass dieser digital präsent bleibt und das Internet nicht mehr nur als Ort der Trauer dient, sondern Speicher einer digitalen Erinnerungs- und Gedenkkultur wird. Dass sich mittlerweile sogar schon der Bundesgerichtshof mit der Thematik auseinandersetzen musste und im Juli 2018 ein entsprechendes Urteil fällte, da Eltern von Facebook den Zugriff auf das Benutzerkonto ihrer verstorben Tochter verklagten, zeigt, wie wichtig und gesellschaftlich relevant das Thema inzwischen schon geworden ist.
Wer sich selbst absichern möchte, sollte also tatsächlich darüber nachdenken, was nach seinem Tod mit dem digitalen Nachlass geschehen soll und gegebenenfalls sogar eine Art Testament verfassen. Neben Facebook und anderen sozialen Medien, die als Ort der Trauer genutzt werden, existieren aber auch sogenannte virtuelle Friedhöfe – Webseiten, auf denen eine Gedenkseite für einen Verstorbenen eingerichtet, individuell angepasst und mit Bildern, Musik und anderem stetig verändert werden kann. So können Hinterbliebene zum Beispiel am Todestag des Verschiedenen dessen Lieblingssong im Hintergrund der Seite einstellen. Der im vergangenen Jahr verstorbene Philosoph und Soziologe Zygmunt Bauman stellte in seinem bereits 1994 erschienen Werk „Tod, Unsterblichkeit und andere Lebensstrategien“ fest, dass es den Tod in seiner ursprünglichen Form eigentlich gar nicht mehr gebe, er nur noch ein Aufschub und Übergangsstadium sei und durch ein bloßes „Verschwinden“ ersetzt wurde. So sehr das Internet manch einem nach einem schweren Verlust auch helfen mag, Wirthmann schätzt diese neue Art der Trauer letztendlich als psychologisch problematisch ein und sieht die Gefahr, dass das virtuelle Weiterleben des Verstorbenen der Trauerarbeit im Weg stünde und es noch schwieriger mache, den Todesfall endgültig zu akzeptieren.
Um eine Brücke zwischen virtueller und analoger Trauer zu schlagen und beide zu einer neuen Form der Gedenkkultur zusammenzuführen, werden – in Schweden sogar erstmals schon im Jahr 1999 – zunehmend auch sogenannte QR-Grabsteine („Grabstein 2.0“) auf Friedhöfen eingesetzt. Auf diese Weise kann Friedhofsbesuchern Wissen über verstorbene Prominente vermittelt, ihrer natürlichen Umgebung also zusätzliche, virtuelle Informationen hinzuzufügt werden. Im baden-württembergischen Leonberg hat sich sogar bereits ein Unternehmen darauf spezialisiert, neben „gewöhnlichen“ Trauerwebsites im Internet auch mit diesen Seiten verbundene QR-Codes zu erstellen, die auf Edelstahlplatten graviert und anschließend von den Hinterbliebenen an den Grabstein des Verstorbenen angebracht werden können. Immer mehr Städte erlauben bereits den Einsatz dieser Technik in ihren Friedhofssatzungen.
“Menschen halten vor ihrem Tod eine kurze Ansprache in eine VR-Kamera. Die Familie oder Interessierte könnten dann ans Grab treten und sie in Gänze erleben, wie in der Realität … sie erscheinen dann und sagen ‘Ich liebe dich’”.
Auch William Shatner, bekannt vor allem als Captain Kirk, leistete erst vor Kurzem einen Beitrag zur Debatte, indem er vorschlug, noch einen Schritt weiter zu gehen und volumetrische Hologramme in Grabsteine einzuarbeiten, sodass diese von den Hinterbliebenen angesehen werden können.
Für den Ernstfall proben – Virtuelles Sterben
Aber lässt sich ein Phänomen, das wir aller Forschung verschiedenster akademischer Disziplinen zum Trotz, voraussichtlich niemals in seiner Gesamtheit begreifen werden, überhaupt in die Virtual-Reality überführen? Wenn man bedenkt, dass eine der unzähligen Stärken dieser Technologie vor allem darin liegt, ihre User Dinge erleben zu lassen, die in unserer Realität aus verschiedenen Gründen so nicht möglich wären und diese dabei durch das Tragen eines Head-Mounted-Displays in der Regel auch – wie beim Sterben – isoliert sind, muss die Antwort ganz eindeutig „Ja!“ lauten. Um Menschen dafür zu sensibilisieren und der Frage auf den Grund zu gehen, was nach dem Tod eigentlich mit dem digitalen Nachlass geschieht, hat der Künstler Gabriel Barcia-Colombo zum Beispiel das immersive Hereafter Institute gegründet – eine personalisierte Kunstinstallation, bei der Interessierten in einer klinik-ähnlichen Atmosphäre erklärt wird, welche verschiedenen Möglichkeiten sich ihnen in Hinblick auf ihren digitalen Nachlass bieten. Am Ende wird der „Klient“ dann schließlich sogar als Gast seiner eigenen Trauerfeier inklusive individualisierter Rede auf der Grundlage zuvor gesammelter Informationen mit seinem eigenen Tod konfrontiert und sieht auf einem Bildschirm die 3D-Version des eigenen Ichs aus einem zuvor angefertigten Körper-Scan ins Jenseits schwinden.
Auch die seit Beginn 2017 von einer Studentengruppe um die New Yorker Neurologin Dr. Gayatri Devi entwickelte Simulation „When we die“ beschäftigt sich auf virtueller Ebene mit der Frage, wie es eigentlich ist, zu sterben. Dabei kam es dem Team, das sich entschieden gegen dauerhafte lebensverlängernde Maßnahmen in Krankenhäusern ausspricht, vor allem darauf an, mithilfe der Virtual-Reality das Thema Tod zu enttabuisieren und die Angst der Anwender ein wenig abzumildern. Ein Vorhaben, das tatsächlich gelingen könnte, zeigten Wissenschaftler der Universität Barcelona doch in einem Experiment, dass virtuelle Todeserfahrungen zumindest kurzfristig die Angst vor dem Tod mindern können.
In der Sieben-Millionen-Metropole Hong-Kong, in der jährlich zwar etwa 40.000 Menschen sterben, aufgrund der mehr als beengten Verhältnisse aber nur 10.000 Urnenplätze pro Jahr zur Verfügung gestellt werden können, hat das Start-up iVeneration den Plan gefasst, den Ernstfall nicht nur zu simulieren, sondern gleich das ganze Bestattungsbusiness in die virtuelle Welt zu verlagern. Während der Leichnam eingeäschert und die Asche verstreut wird, was einen umgerechnet mehrere tausend Euro teuren Urnenplatz überflüssig macht, werden die Grabstätten auf einer Website dreidimensional erstellt und können nach den Vorstellungen der Hinterbliebenen geschmückt werden. Der Grabstein, da virtuell erstellt, muss sich dabei natürlich nicht zwingend auf einem (virtuellen) Friedhof, sondern auch in jeder anderen erdenklichen Umgebung befinden. Hatte der Verstorbene Zeit seines Lebens zum Beispiel eine besondere Beziehung zu Italien, so könnte seine letzte Ruhestätte problemlos an das Pantheon oder den Trevi-Brunnen verlegt werden.
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