Wenn Literaturtheorie und Virtual Reality miteinander tanzen – Erzählen als Erschaffung einer virtuellen Realität
Es brechen spannende Zeiten für Aspekteins an: Mit der Entwicklung unserer Hyperresponsive VR-Experiences wagen wir den nächsten Schritt im Bereich des interaktiven Storytellings und stehen damit in einer langen Tradition immersiver Erzähltechniken. Aus diesem Anlass widmen wir in den kommenden Wochen interaktivem Storytelling eine Themenreihe. Dabei betrachten wir besonders dessen Geschichte sowie aktuelle Beispiele in verschiedensten Medien. Im Fokus stehen Schnittstellen zwischen Narratologie und Virtueller Realität. Diese lassen sich anhand der Kategorien Immersion und Interaktivität einordnen.
Pimentel und Teixeira, zwei Wissenschaftler, die sich bereits in den 1990ern mit der virtuellen Realität beschäftigt haben, charakterisieren die Verflechtung von Narratologie und virtueller Realität in ihrem Buch „Virtual Reality: Through the New Looking Glass“ folgendermaßen:
As [users] enter the virtual world, their depth of engagement gradually meanders away from here until they cross the threshold of involvement. Now they are absorbed in the virtual world, similar to being in an engrossing book.
Pimentel und Teixeira, Virtual Reality, 15
The question isn’t whether the created world is as real as the physical world, but whether the created world is real enough for you to suspend your disbelief for a period of time. This is the same mental shift that happens when you get wrapped up in a good novel or become absorbed in playing a computer game.
Vom Storytelling zum Storyliving
Hyperresponsive VR (HRVR) greift die in der Natur des Erzählens angelegten Elemente der Immersion und Interaktivität auf, potenziert diese und schafft damit innerhalb des Mediums der Virtual Reality eine gänzlich neue, hybride Erzählform. Dabei spielt HRVR mit den Grenzen zwischen Fiktion und Alltagswirklichkeit und folgt einer non-linearen Dramaturgie. Nutzer können durch HRVR nicht nur mit der Umwelt interagieren, sondern auch das Geschehen innerhalb der 360-Grad-Umgebung aktiv beeinflussen. Sie werden damit vom passiven Zuschauer zum Protagonisten. Die erzählte Geschichte passt sich individuell auf ihr Verhalten an.
Damit dies funktioniert, bedarf es einer sorgfältig ausgearbeiteten Konzeption: Die Geschichte wird verzweigt aufgebaut. Zahlreiche lineare 360°-Filme werden intelligent verknüpft, um so sämtliche Interaktionsmöglichkeiten abzubilden. Durch die Auswertung verschiedener, durchweg Nutzer-bezogener Parameter entscheidet die Anwendung selbstständig, welche Fortführung der Handlung für den Zuschauer am geeignetsten erscheint. Der Zuschauer erlebt so eine fortlaufende, auf die eigenen Interaktionen zugeschnittene Geschichte. Charaktere gehen dabei direkt auf das Verhalten des Zuschauers ein. Da die Abzweigungen des Entscheidungsbaumes nicht offen gelegt werden, wird der Zuschauer nochmals stärker animiert, mit den Charakteren zu interagieren und tief in die Welt der erzählten Geschichte einzutauchen. Dem Nutzer wird nicht mehr länger nur eine Geschichte erzählt, sondern sie wird ihm erlebbar gemacht.
Sie sehen: Großes Potential, das im Marketing, im Entertainment, und im Journalismus, aber natürlich auch in vielen anderen Bereichen genutzt werden kann und will.
Doch nun zunächst: Back to the roots!
Vom Sinn und Zweck der Erzählkunst
Ob in der Darstellenden oder Bildenden Kunst, in der Musik, im Film oder in der Literatur – das Erzählen von Geschichten ist eine der ältesten Kulturtechniken der Menschheit und befriedigt eine Vielzahl an Bedürfnissen. Erzählungen geben der Welt um uns herum einen Rahmen. Sie dienen der Wissensvermittlung und ermöglichen es uns, Dinge besser zu verstehen oder zu lernen. Die Transformation der realen zu einer virtuellen, erzählten Welt macht das eigene Leben jedoch nicht nur begreiflicher, sondern stellt es auch in völlig neue, bislang unerkannte Zusammenhänge. Geschichten ermöglichen es uns, uns mit existentiellen Fragen auseinanderzusetzen, zu reflektieren, zu verarbeiten und Kritik zu üben. Dies stiftet einerseits individuelle und kulturelle Identität, kann andererseits aber auch einfach eine ebenso kurzweilige wie unterhaltende Ablenkung von unserem alltäglichen Leben bieten. Eine gute Geschichte ermöglicht es uns, unserem Alltag zu entkommen und gänzlich in eine andere Welt abzutauchen.
Zwischen Fakt und Fiktion – Immersion!
Damit Geschichten ihr volles Funktionspotenzial entfalten können, müssen wir als Leser, Zuhörer oder Zuschauer bereit sein, die Gesetzmäßigkeiten, die der uns präsentierten Welt zugrunde liegen, zu akzeptieren. Im Rahmen der literaturwissenschaftlichen Theoriebildung wird diese Bereitschaft, eine fiktionale Geschichte als Wirklichkeit wahrzunehmen, als so genannter Fiktionsvertrag bezeichnet. Die Literaturwissenschaftlerin Käte Hamburger beschreibt diesen Mechanismus mit Theodor Fontanes Romandefinition: Eine Geschichte solle uns „eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen lassen.“ Das so genannte „Realitätsprinzip“ besagt, dass grundsätzlich davon ausgegangen werden kann, dass die erzählte Welt wie die reale Welt beschaffen ist, solange nichts Gegenteiliges durch die fiktionale Darstellung angezeigt wird. Dies hilft dem Rezipienten zusätzlich dabei, sich auf die Fiktion einzulassen.
Damit der Rezipient das fiktionale Geschehen auf sein eigenes Leben beziehen und so eine Art virtuelles „Probehandeln“ entwerfen kann, muss die Geschichte so erzählt werden, dass man immersiv in sie eintauchen kann. Zuschauer sollten sich dabei mit einzelnen Charakteren identifizieren beziehungsweise sich von Ihnen abgrenzen können. Trotz kritischer Rezeptions-Distanz muss der Rezipient also mithilfe bestimmter Erzählstrategien in die erzählte Welt verwoben werden:
You shall see them, reader. Step into this neat garden-house on the skirts of Whinbury, walk forward into the little parlour–there they are at dinner. (….) You and I will join the party, see what is to be seen, and hear what is to be heard. At present, however, they are only eating; and while they eat we will talk aside.
Charlotte Brontë: Shirley. Hertfordshire, Worthsword Edition, 1993, Seite 4
Brontë weist durch die direkte Leseransprache deutlich auf das Text-Leser-Verhältnis und damit auf die Fiktionalität des Geschehens hin (hierbei spricht man gerne auch vom so genannten Duchbrechen der vierten Wand). Sie erzielt damit einen geradezu paradox anmutenden immersiven Effekt: Der Leser fühlt sich durch die Ansprache regelrecht an die Hand genommen und kann sich die Szenerie durch Brontës lebendige Beschreibung nicht nur vorstellen, sondern sich so fühlen, als wäre er selbst, gemeinsam mit der Autorin, anwesend.
Auch VR-Anwendungen bedienen sich bestimmter (Erzähl)-Verfahren, damit Nutzer noch besser in die erzählte Welt eintauchen können. Nur wenn die technischen Voraussetzungen für eine immersive Erfahrung gegeben sind, kann auch ein Gefühl der Präsenz, also die Erfahrung des Da-Seins, entstehen. Wesentliche Faktoren sind hierbei zum Beispiel eine hohe Bildauflösung sowie eine geringe Latenzzeit bei Kopfbewegungen (tracking prediction).
Rezeption vs. Produktion
Das durch die erzählte Welt ermöglichte Probehandeln innerhalb der Literatur vollzieht sich in den vorangegangenen Beispielen stets auf einer passiven Ebene innerhalb eines klassischen Sender-Empfänger-Modells mit entsprechend vorgegebener Hierarchie. Statt mittendrin ist man letztendlich also doch nur irgendwie dabei und wird vom Text respektive dem Autor ausgesperrt. Folgt man jedoch dem in der Narratologie der späten 1960er-Jahre etablierten, leserorientierten Textbegriff der Rezeptionsästhetik, so gestaltet sich ein Text als ein intertextuelles „Mosaik aus Zitaten“ (Bachtin), das andere Texte (und Kontexte) in sich absorbiert und seine Bedeutung letztlich nur durch die Kommunikation und Interaktion mit dem jeweiligen Leser entfaltet. Das heißt, es existiert nicht nur ein objektiver Text, sondern ebenso viele Auslegungen wie Leser, da, so die Theorie, durch jeden individuellen Leseprozess eine neue und einzigartige Interpretation entsteht. Möglich ist dies unter anderem durch die von dem Anglisten Wolfgang Iser als solche benannten unbestimmten „Leerstellen“, über die jeder Text verfügt und die vom Leser individuell gefüllt werden können. Der Leser wird seiner passiven Rolle enthoben und durchläuft eine Metamorphose vom Rezipienten zum Produzenten. Roland Barthes spitzte diesen Umstand zu, indem er 1967 gar den „Tod des Autors“ (Ende des bislang vorherrschenden Biographismus innerhalb der literaturwissenschaftlichen Deutung) ausrief.
Themenreihe zur Geschichte des interaktiven Storytellings
Hyperresponsive VR-Anwendungen denken die hier beschriebenen leserorientierten Theorieansätze innerhalb der Literaturwissenschaft radikal weiter. Sie nutzen die Synergien aus Immersion und Interaktivität, um Nutzern eine ebenso ganzheitliche wie mitreißende Erfahrung bieten zu können. Die Ideen und die Mechanismen des hyperresponsiven Storytellings sind eng mit der langen Tradition des interaktiven Storytellings verknüpft. Daher widmen wir diesem – nicht zuletzt durch den Hype um den interaktiven Netflix-Film Bandersnatch wieder brandaktuellem – Thema in den kommenden Wochen eine Themenreihe, in der wir zusammen mit Ihnen noch tiefer in die Materie einsteigen werden.
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