Leavin´ the Hero´s Path…
Kishōtenketsu ist eine spezielle japanische Erzählstruktur. Während die westliche Form an 3 Akten orientiert ist (Einleitung, Hauptteil, Schluss), setzt sich das asiatische Pendant aus 4 Teilen zusammen: Kī- Einleitung, Shō- Entwicklung, Ten- Komplikation und Ketsu- Versöhnung/Fazit. Im Gegensatz zur westlichen Erzählkultur, gibt es hier keinen „Konflikt“ der besiegt oder überwunden werden will. Vielmehr stehen Kollaboration, Kooperation, sowie ganzheitliche Zusammenhänge im Vordergrund des Plots. Die Reise des Helden/“Hero´s Journey“, eine Weiterentwicklung unserer klassischen Erzählstruktur, wurde v.a. durch den Literatur- und Sprachwissenschaftler Joseph Campbell im Rahmen seiner vielschichtigen mythologischen Studien untersucht. Dabei orientiert sich diese Form der Erzählung an Protagonisten, welche sich als Einzelne der Verantwortung übergeben, charismatische Schurken zu besiegen: „Gut gegen Böse“. Diese kulturellen Unterschiede, gilt es im Hinblick von Hyperresponsive Storytelling besser zu erforschen. Auch Yelena Rachitsky, ausführende Produzentin bei Oculus und Head of Education des im vergangenen Jahr aufgelösten Story Studio, betonte jüngst die Relevanz neuer Strukturen für eine noch ganzheitlichere Experience beim User. Sie differenziert hierbei emotionale Erlebnisse (immersion,presence) von z.B. mental gesteuerten, strategischen Handlungen, wie sie primär beim Gaming eine Rolle spielen. Letztere seien kopfbetonte Handlungen und dem „Yang-Prinzip“ zuzuordnen; die verkörperte Erfahrung des emotionalen Betroffenseins dagegen dem „Yin-Aspekt“. So hält sie es beim Developing für ausgesprochen relevant, ein Gleichgewicht zwischen Narration und Interaktion zu finden: aktive (Denken, Strategie) und passive (Fühlen, Intuiton) Elemente ausgleichend einzubringen und über die gesetzten Reize hinaus, eine individuelle Geschichte für den Viewer zu initiieren. Es gehe darum, die Lücke zwischen Gaming, Storytelling und Interaktivität genauer zu erforschen, um neue Kategorien der VR-Experience zu erschließen.
…entering Storyworld Building
Yin (Passivität, Negativität, Dunkelheit, Weiblichkeit, Wasser, Empfangen) und Yang (Aktivität, Positivität, Licht, männliches Prinzip, Feuer, Geben), als einander bedingende Polaritäten, spielen möglicherweise ausgerechnet im VR-Storytelling eine stärkere Rolle. Hört es sich doch ganz danach an, als wäre der „Blick nach Innen“ für ein erfolgreiches Entwickeln ausgesprochen obligat. Was sagt uns hier nun die chinesische Philosophie mit ihren aufeinander bezogenen Prinzipien?
Rachitsky betont in erste Linie die Berücksichtigung des Körpergedächtnisses: wir folgen mental einer narrativen Struktur, aber auch unsere Körper erleben und erinnern die erzählte Geschichte auf sehr komplexe Art und Weise. Farbwahl, Raum und Sphäre haben einen direkten Impact auf die Emotionalität des Anwenders. VR-Designern entsprechender Metiers empfiehlt Rachitsky deshalb, den Fokus auf jene Aspekte zu richten, die eine intensive und v.a. persönliche Erfahrung beim User generieren: unwillkürliche, viszerale (auf Organe wie Herz, Lunge und Magen bezogen und mit entsprechender Auswirkung auf z.B. Herzfrequenz, Atmung und Bauchgefühl) Inputs entsprechend zu forcieren, als auch eine komplexe innere Auseinandersetzung mit visuellen und narrativen Inhalten anzuregen. Ihrer Meinung nach sollten Developer formal nicht zu sehr an den Dimensionen des Aufbaus einer Erzählstruktur verhaftet bleiben, sondern das Hauptaugenmerk auf eine tiefgreifende VR-Experience legen, durch die sich der Viewer in seinem ganz persönlichen Background berührt fühlt- bestenfalls könne hierdurch eine Erfahrung kultiviert werden.
Es stellen sich an dieser Stelle verschiedene Fragen:
- Wie kann die Kohärenz einer Geschichte erhalten bleiben, wenn die Erzählung zugleich interaktiv und dynamisch ist?
- Wie wirkt sich Non-Linearität auf die Experience einer Erzählung aus (fehlende Limitierungen)?
- Welche Art Trigger dienen der Beeinflussung von unbewussten Entscheidungen?
- Wird extra-narrativer Content durch die Berücksichtigung basaler Dynamiken der Verortung, auf Grundlage von Interaktionsmöglichkeiten wie sie auch das reale Leben bietet, überflüssig?
Die Kraft der Mythen
Damit greift Rachitsky Aspekte des immersiven Storytellings auf, die auch John Bucher in seiner Publikation, Storytelling for Virtual Reality, aufführt. So untersucht er die Körperauffassung des Menschen speziell im Hinblick auf kollektive Erfahrungen, wie die Antizipation des Antiken Theaters oder die Bedeutung ritueller Auseinandersetzung und Heldenverehrung im polytheistisch geprägten Weltbild. Bucher sieht gerade bei den alten Griechen einen interessanten Forschungsansatz, da die Bühnenkunst zu dieser Zeit kulturell viel umfassender verankert war, als dies heute bei uns der Fall ist. Auch die Erforschung von anderen Religionen und Kulturen bietet Aufschluss über menschliche Interaktion mit dem Unterbewusstsein, aber auch Ober-und Unterwelten samt Archetypen, kollektiven Urbildern des Unbewussten, und transformatorischen (Seelen-und Körper-) Zuständen. So gäbe es fundamental verankerte Erfahrungsebenen, denen alle Menschen gleichermaßen ausgesetzt seien, die in den Kontext von VR zu stellen sind. Auch Bucher fordert einen dritten Ansatz, quasi-synthetisch, zwischen Tech/Design und Naration: den Umgang mit der inneren Erfahrungsebene des Viewers, die erst den persönlichen, narrativen Diskurs entfaltet. Im Hinblick auf die immersive Körpererfahrung sieht er das Erd-Element als neue, aber absolut wesentliche Komponente beim Erleben einer Story- im Rahmen der (Körper-) Materie beim Empfinden von Gegenwärtigkeit/Präsenz.
Im traditionellen Sinne wird dem Zuhörer eine Geschichte vermittelt, die dieser rezipiert. Doch die Erforschung immersiver Umgebungen führt immer mehr dazu, den Viewer/Listener aktiv in das Narrative einzubinden, ihn dynamisch teilhaben zu lassen. Zuschauer sollen hierbei unterschiedliche Perspektiven annehmen können und auch selbst zu Protagonisten werden.
„Immersive storytelling isn´t about the beginning, middle, or end, but rather it is about cultivating an experience that you have, and it´s about the story that you tell yourself after you take the headset off.“ Yelena Rachitsky, Oculus-producer
Let´s have a look… hinter die Kulissen
Einen Ansatz zur praktischen Erforschung der embodied experience (wie sie in der Praxis von der Aspekteins GmbH u.a. für die Horror-Nights des Europa-Park und auch für die preisgekrönte Bahlsen Sweet Kitchen Produktion zum Einsatz gekommen sind) und agency (als Nutzer in der virtuellen Welt aktiv handelnd zu werden), bietet Immersives Theater. Als Bühne fungiert der urbane Raum jenseits etablierter Kulturinstitutionen: Alte Fabrikhallen, Lagerräume, leerstehende Schulen oder Brachflächen sind Austragungsort für ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Darstellungsmuster, denn immersives Theater beeinhaltet neben Aspekten der Installations-und Performancekunst z.B. auch Elemente aus Populärkultur, aus Film, Fernsehen und Unterhaltungsindustrie. Signifikant ist bei dieser Form der Inszenierung die Aufhebung der räumlichen Trennung von Zuschauer und Schauspieler durch die imaginäre (vierte) Wand. Ende des 18.Jahrhunderts eingeführt, ging es beim „geschlossenen“ Drama um die explizite Unterscheidung von Realität und Fiktion. Bertholt Brecht versuchte diese „Neuerung“ dann wieder zu durchbrechen, um den Zuschauer, auf die gezeigten Inhalte hin, reflektorisch zu aktvieren. Entgegen des dialektischen Theaters mit seinen konkreten Verfremdungseffekten, will das immersive Theater jedoch im Teilnehmer affektive Partizipation evozieren. Der Zuschauer soll keine kritische Distanz zum Geschehen aufbauen, sondern emotional in die erzählten Geschichten eintauchen. Damit lehnt es sich an das ambitionierte Wirken Antonin Artauds an, der mit seinem „Theater der Grausamkeit“ Ansätze eines immersiven Bühnenspiels verfolgte, basierend auf Forderungen der Entliterarisierung klassischer und übernommener Strukturen. Resultierend forderte er, einen neuen Begriff von Sprache zwischen „Denken und Gebärde wiederzufinden“. Auch er verlangte ein „Theater der Aktion“, welches die Abschaffung von Bühne und Zuschauerraum verlangte. Seine Kritik an der reinen Unterhaltung, die das Theater seiner Meinung nach damals vermittelte, führt uns zurück zu jenen experimentellen, immersiven Produktionen, denen es ebenfalls um die Aufbrechung von herkömmlichen Unterhaltungsstrukturen geht. Darstellungsformen, an denen daran gearbeitet wird, den Viewer sowohl aus der rein analytischen Ebene, als auch der konsumistischen Distanz herauszulösen, könnten deshalb eine Schlüsselrolle in der Entwicklung von VR-Storytelling einnehmen. So halfen denn auch Schauspieler von Third Rail Projects/Brooklyn im Rahmen der Alice im Wunderland-Adaption „Then She Fell“, um in der Oculus-Produktion „Wolves in the Walls“ mehr Kohärenz zwischen Narration und Körpersprache (materialisierter Charaktere) herzustellen.
Während der Zuschauer in einem konventionellen Theaterstück die Rolle eines passiven Beobachters einnimmt, sich in den Plot vertiefend, bestenfalls für zwei, drei Stunden den Alltag hinter sich zu lassen vermag, fordert immersives Theater seine Aktivität heraus: eine Rolle einzunehmen und zum Handelnden zu werden. Als Augenzeuge kann der Zuschauer nun den Aufführungsraum erkunden, sich dabei Sachverhalte und Beziehungstrukturen erschließen, zum unmittelbar Beteiligten avancieren. Er kann Teil des Plots werden oder Schlüsselszenen (mit-)erleben. Die Grenze zwischen Performer und Publikum wird aufgelöst: der Zuschauer wird Akteur und kann sich von verschiedenen Ebenen her dem narrativen Vorgang öffnen- letztlich sogar selbst entscheiden, wie und worauf er physisch reagieren möchte. Ermöglicht wird dies letztlich durch die zugrunde liegenden Technologien responsiver Virtual-Reality Anwendungen – lesen Sie hier mehr wie die Aspekteins GmbH Sie bei der Entwicklung von Virtual-Reality Apps und Content unterstützen kann.
Senses of Agency or to Play a Role
Diese Entwicklung bietet dem Zuschauer nicht nur eine komplexere Selbsterfahrung, sondern zugleich eine Menge Adaptionspotential für neue Ebenen im virtuellen Geschichtenerzählen. Geht es doch darum, den Viewer nicht länger nur Viewer sein zu lassen, ihn vom mentalen puzzle-solving wegzuführen und, im Sinne des agency, aktiv an der Erzählung teilnehmen zu lassen.
Im Rahmen einer dynamischen „Forschungsumgebung“ können verschiedene Visuals (Farbgebung von Objekten/ Räumen, Licht oder Text), Sound und Bewegung gezielt eingesetzt werden, um den Plot auf Basis von extensiven Handlungs- und Erlebnisspielräumen zu verankern (visual handrails). Sowohl Bucher als auch Yelena Rachitsky sehen gelungenes storyliving weniger durch konventionelle Erzählstrukturen begründet, als in flexiblen narrative-charts. Viewer mit den richtigen Fragen zu konfrontieren, ihnen die Möglichkeit bieten, tiefere Schichten experimentell auszuloten, sollte als erklärtes Ziel zukünftig mehr Eingang beim Developing finden.
Emotionale Trigger (d.h.bestimmte Verhaltenweisen anderer Menschen, die einen direkten Einfluss auf unsere Gefühle haben und entsprechende Reaktionen hervorrufen) werden im Neurogaming durch Facial Recognition-Software analysiert. Auch US-Filmemacherin Karen Palmer arbeitete für ihren Film „Riot“, dessen Ausgangspunkt die Ferguson Proteste im Jahr 2014 waren, mit AI-Software. Der Zuschauer reagiert hierbei auf verschiedene Akteure, seine Emotionen werden zum Indikator für alternative, finale, Handlungsstränge. Dieses facial detection tool basiert auf 7 möglichen Gefühlszuständen die dem Viewer gespiegelt werden können und im Matching dann, auf Basis der zum Ausdruck gebrachten emotionalen Verfasstheit, den weiteren Verlauf der Story initiieren. Ebenso wurde ein Tool benutzt, welches auch Aspekteins bereits zur Benutzerführung einsetzt, um Erzählung spezifisch weiterzuführen: Via eye-tracking kann evaluiert werden, worauf der Viewer seinen Fokus richtet, welche Protagonisten ihn mehr beschäftigen als andere, wem er zu folgen vermag. Letztlich soll sich der Nutzer seiner Emotionen bewusster werden, den Impact auf sein eigenes Erleben realisieren, so Palmer. Auch ihr geht es grundlegend um die Analyse von Metaebenen der Kommunikation. Storytelling sollte ihrer Meinung nach ebenfalls noch mehr im Kontext moderner Mythologien verortet werden: im Hinblick auf die gesellschaftliche Anerkennung, die kollektive Kraft, mit der das Geschichtenerzählen in frühen Epochen der Menschheit assoziiert, ja zelebriert, wurde.
Im Hinblick auf VR-Storytelling gilt es also zu eruieren: was macht den „Besuch“ in einer bestimmten VR-Welt aus? Warum sollte ich mich als Viewer darin aufhalten wollen?
Wenn wir das Geschichtenerzählen als dynamischen Prozess (statt in konventionellen Erzählmustern-gemäß Anfang/Mitte/Ende) begreifen, liegt der Plot strukturell nicht verbarrikadiert außerhalb von uns. So gewinnen wir diametral Raum für immersives, persönliches Erleben. Im Schulterschluss mit dem was z.B. vermeindlich hinter uns liegt, den Mythen und Narrativen alter Kulturen, erscheint es durchaus logisch, uns erst als Teil einer Geschichte entdecken zu können, wenn die basalen Strukturen des Menschen Einzug in die Gegenwart erhalten. The Future of Storytelling: to be continued..!
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