Mittendrin statt nur dabei – Wenn Nachrichten real werden
Ursprünglich mit dem Grundgedanken verbunden, eine besondere Verbindung zwischen Leser und Story herzustellen, ist das Konzept der Immersion, das auch für die Virtual-Reality eine überaus wichtige Rolle spielt, im Journalismus zunächst einmal gar nicht neu. Um seinen Lesern das Gefühl vermitteln zu können, das Football-Team der Detroit Lions gerade selbst kennenzulernen, im Prinzip also vor Ort zu sein, wurde der damals 36-jährige amerikanische Journalist George Plimpton, der zuvor noch nie mit professionellem Sport in Berührung gekommen war, 1963 zum Beispiel kurzerhand selbst ein Teammitglied und absolvierte als Ersatz-Quarterback nicht nur Trainingseinheiten mit „seinem“ Team, sondern wurde sogar für einige Testspiele eingesetzt und verschrieb sich damit ganz und gar dem sogenannten teilnehmenden Journalismus.
Der vom US-amerikanischen Schriftsteller und Journalisten Hunter S. Thompson Anfang der 1970er Jahre begründete Gonzo-Journalismus („gonzo“ = englisch für exzentrisch, verrückt) trieb die ursprüngliche Idee des teilnehmenden Journalismus dann schließlich auf die Spitze beziehungsweise pervertierte sie regelrecht, indem plötzlich nicht mehr das eigentliche Ereignis oder Thema selbst im Fokus der Reportage stand, sondern das übertrieben dargestellte subjektive Erleben des Journalisten, wobei die Grenze zwischen Fakt und Fiktion oftmals fließend war. Seine Geburtsstunde feierte der Gonzo-Journalismus, als Thompson es bis Redaktionsschluss des Magazins Scanlan’s Monthly nicht schaffte, seinen Artikel über das Kentucky Derby in Louisville fertigzustellen und stattdessen seine unbearbeiteten Notizen an die Redaktion schickte. Die Notizen bezogen sich kaum auf das Pferderennen an sich, sondern konzentrierten sich mehr auf die Gesamtatmosphäre sowie die im Zusammenhang mit Thompsons Aufenthalt in Louisville veranstalteten Kapriolen des Journalisten.
Immersiver Journalismus im (virtuellen) Wandel
Heute, über fünfzig Jahre später, wurde der Begriff des Immersiven Journalismus natürlich schon längst technisiert und auf virtuelle Welten übertragen, wodurch er schließlich einen Wandel erfuhr und als Virtual-Reality-Journalismus bezeichnet wurde. Doch nicht nur die Namensgebung änderte sich, sondern auch die Rolle des Nutzers/Lesers. Immersion war nun nicht mehr länger nur ein besonderer Schreibstil, sondern strebte danach, den bislang passiven Leser in den Fokus zu rücken, ihn präsent werden und in die Geschichten, über die berichtet wurde, eintauchen zu lassen. Dies geht teilweise bereits so weit, dass der zum Zuschauer transformierte Leser selbst zum Protagonisten wird und mit Menschen innerhalb der Reportage interagieren kann. Im Pressewesen ist diese Art der Berichterstattung mittlerweile eine ebenso akzeptierte wie etablierte Herangehensweise an die journalistische Arbeit, die seit diesem Jahr sogar mit einem eigenen Handbuch aufwarten kann, sich gleichzeitig aber noch immer im Prozess der Ausdifferenzierung befindet.
Was zunächst mit computeranimierten Nachrichten begann – berichtet wurde 2011 übrigens für den taiwanesischen Markt, wie die Piratenpartei ins Deutsche Parlament einzog, inklusive mehrerer kleiner Fehler – wurde recht schnell zu echten Virtual-Reality-Erlebnissen weiterentwickelt. 2012 schuf die amerikanische Reporterin und Geschäftsführerin der Emblematic Group Nonny de la Peña zusammen mit Palmer Luckey (dem Gründer von Oculus VR) mit „Hunger in Los Angeles“ eine computeranimierte Nachrichtenmeldung, in die der Zuschauer via Oculus Rift eintauchen und die Szene selbst miterleben konnte. Der Bericht handelte von einem Vorfall, der sich während der Essensausgabe in der First Unitarian Church ereignete: ein älterer Herr brach unvermittelt in der Warteschlange zusammen, der Rettungswagen wurde verständigt. Obwohl nicht mit realen Personen, sondern nur mit animierten Figuren gearbeitet wurde, wirkt die Szene realistisch, wozu auch die Untermalung mit originalen Tonaufnahmen entscheidend beiträgt.
Nachdem „Hunger in Los Angeles“ beim Sundance Film Festival seine Premiere gefeiert hatte, veröffentlichte de la Peña zwei Jahre später das „Project Syria“, bei dem der Alltag von Flüchtlingen in einem syrischen Flüchtlingscamp erlebbar gemacht werden sollte. Darauf folgte dann „Use of Force“, das sich mit den Themen Migration und Polizeigewalt an der mexikanisch-amerikanischen Grenze beschäftigte.
In der 10-minütigen VR-Dokumentation „Assent“ hingegen zählen weder harte Fakten noch Statistiken, sondern es sollen ganz gezielt die Emotionen des Viewers angesprochen werden. Besonders beeindruckend an diesem Beispiel ist, wie Story einerseits und technisch realisiertes Storytelling andererseits ineinandergreifen beziehungsweise sich gegenseitig bedingen: zu Beginn der Dokumentation, die anhand des damals 22-jährigen Vaters des Produzenten Oscar Raby die Geschichte des Militärputsches 1973 in Chile erzählt, kann man sich in der virtuellen Welt noch frei bewegen. Zum Schluss, kurz vor dem dramatischen Höhepunkt der Ereignisse, wird man jedoch zur Reglosigkeit verurteilt, verliert die Kontrolle über das Gezeigte, so wie innerhalb der erzählten Geschichte auch das Geschehen außer Kontrolle geraten ist. Am Ende fragt man sich, ob man bei dieser Dokumentation überhaupt noch vom Geschichtenerzählen sprechen kann oder doch eher den Terminus story experiencing verwenden sollte.
Neben Virtual-Reality-Experiences spielen im Zusammenhang mit immersivem Journalismus aber auch 360-Grad-Videos eine wichtige Rolle. Als am 13. Dezember 2014 auf den Straßen New Yorks mehrere zehntausend Menschen gegen Polizeigewalt und die Tötung unbewaffneter afroamerikanischer Menschen protestierten (Millions March NYC), waren die beiden erfahrenen Regisseure Chris Milk and Spike Jonze im Auftrag der Vice News, die hierzulande statt mit seriösem Journalismus eher mit abseitigen Themen in Verbindung gebracht werden, live vor Ort, um das Geschehen mit passendem Equipment einzufangen. Zwar kann man sich in der fertigen 360-Grad-Produktion auch frei umsehen, sich aber nicht frei bewegen oder gar das Geschehen beeinflussen. Angesehen werden konnte das Video bei seiner Veröffentlichung entweder über die Mobile-App Vrse von Vice mit oder ohne Cardboard oder aber mit einer VR-Brille.
I’m not just watching this act of civil disobedience. I feel like I’m part of it. This isn’t a documentary about the protest. This IS the protest, digitized. – Josh Constine, TechCrunch
Ein weiteres Ereignis, bei dem 360-Grad-Videos zum Einsatz kamen, war der US-Präsidentschaftswahlkampf im Jahr 2016. Die New York Times veröffentlichte unter dem Titel „The Contenders“ eine Reihe von Filmen, in denen die vier Kandidaten jeweils einzeln porträtiert wurden und die Material von verschiedenen Wahlkampfveranstaltungen zeigten, sodass der Wählerschaft ein ganz neuer Zugang zu politischer Meinungsbildung gewährt wurde und sie den Kampf um ihre Gunst hautnah miterleben konnte. Im Gegensatz zu herkömmlicher Fernsehberichterstattung hatten die Zuschauer die Möglichkeit, sich bei den gezeigten Events nicht nur einen Überblick über das Programm der Amtsanwärter zu verschaffen, sondern dank frei wählbarer Perspektive auch die Stimmung vor Ort zu erleben.
Doch auch schon vor dem Wahlkampf im Jahr 2016 experimentierte die New York Times mit dem Einsatz von Virtual-Reality, um ihre Leser aktiv an ihren journalistischen Inhalten teilhaben zu lassen. Um diese Teilhabe überhaupt zu ermöglichen, verschickte die Tageszeitung im November 2015 über eine Million Google-Cardboards an ihre Leser und zeigte mit dem 360-Grad-Film „The Displaced“, wie Virtual-Reality im Journalismus konkret angewendet werden kann.
Die VR-Geschichten der Times werden von preisgekrönten Journalisten erzählt und erscheinen in regelmäßigen Abständen. Mit der NYT-VR-App können die Videos mit oder ohne Google-Cardboard auf dem Smartphone (Android, iPhone) angesehen werden. In Deutschland haben mittlerweile auch das ZDF, Arte und die Süddeutsche Zeitung eigene Mediatheken für ihre VR-Aufnahmen angelegt, um Zuschauern besondere Geschichten zu erzählen und sie dabei an Orte zu bringen, an die sie ohne die VR-Technologie niemals gelangt wären.
Näher an der Wahrheit, unethischer Abstumpfungsmechanismus oder anfällig für Fake News?
Ein Virtual-Reality-Erlebnis wird gemeinhin dann als gut gemacht betrachtet, wenn es graphisch überzeugen kann und über einen hohen Grad an Immersion verfügt. Das bedeutet, dass dem Anwender, der sich physisch in einem normalen, alltäglichen Raum aufhält, mithilfe der VR das Gefühl vermittelt werden soll, sich an einem ganz anderen Ort zu befinden, an dem im besten Fall möglichst viele seiner Sinne angesprochen werden und an dem er wie in seinem gewohnten Umfeld agieren kann. Was im Kontext der Virtual Reality eigentlich als Qualitätsmerkmal gilt, wird im Immersivem Journalismus allerdings zum Problem beziehungsweise zur ethischen Herausforderung, sollen dem Anwender hier doch keine Fiktionen, sondern faktuale Ereignisse präsentiert werden, die mitunter eine reflexive, kritische Distanz fordern. Kritiker des Virtual-Reality-Journalismus bezweifeln, dass diese gewahrt werden kann, wenn der Zuschauer plötzlich Teil des Geschehens ist und somit automatisch auch seine Emotionen angesprochen werden. Statt Nachrichten also objektiv aufzunehmen und zu verarbeiten, reagiert der Zuschauer durch seine direkte Teilhabe emotional und verinnerlicht die sozusagen selbst erlebten Nachrichten – ein Umstand, der in Zeiten der Fake News-Debatte fatalerweise nur allzu leicht von falschen Meinungsmachern missbraucht und manipuliert werden könnte. Wer behauptet, in 360-Grad-Videos oder VR-Anwendungen ließe sich nichts verstecken und der User habe eine freie Rundumsicht, der vergisst, dass es sich um von Menschen gemachte Schöpfungen handelt, die einer Postproduktion unterzogen und dabei natürlich auch geschnitten werden. Der Zuschauer bekommt also auch hier letztendlich nur das zu sehen, was ihn der entsprechende Produzent sehen lassen möchte. Dan R. Pacheco, Professor für Innovationen im Journalismus an der Syracuse University, vertritt in diesem Zusammenhang allerdings die Meinung, dass letztlich jede Art des Journalismus die Gefahr der Faktenmanipulation berge und dieses Risiko auch beim Virtual-Reality-Journalismus nicht höher eingestuft werden müsse. Die anfangs mit dem Immersiven Journalismus verbundene Hoffnung, dass Virtual-Reality wie eine „Empathiemaschine“ funktioniere, der Zuschauer bestimmte Ereignisse also durch seine virtuelle Präsenz in Kriegs-, Krisen- oder Katastrophengebieten besser nachvollziehen, seine Wahrnehmung der Welt und daraus resultierend seine Einstellung ändern würde, wird allerdings nicht zwingend erfüllt. Denn Präsenz, so Ainsley Sutherland, ehemaliges Mitglied des BuzzFeed’s Open Lab für Journalismus, Technologie und Künste, bedeute nicht automatisch Empathie und auch Emotion sei grundsätzlich auch nicht dasselbe wie Empathie. Vielmehr bestünde sogar die Gefahr, dass der Virtual-Reality-Journalismus voyeuristische Tendenzen der Zuschauer bediene und sie mit der Zeit gegenüber solcher Ereignisse noch mehr abstumpfe. Auch aus medienrechtlicher Perspektive gestaltet sich der Fortschritt des Immersiven Journalismus zwar durchaus interessant, schafft gleichzeitig aber Problemstellungen und wirft Fragen nach der Einordnung des noch jungen Phänomens in bestehende Kategorien auf. Aufgrund der besonders hohen Suggestivkraft des Journalismus in der virtuellen Realität, die sich aus der mangelnden Distanz zwischen Rezipient und Inhalt ergibt, muss sich zudem damit auseinandergesetzt werden, ob eventuell ein rechtlicher Regelungsbedarf besteht.
Ohne Zweifel: Mit dem Virtual-Reality-Journalismus hat eine neue, spannende Art der Berichterstattung Eingang in unsere Medienwelt gefunden, die sich noch in der Experimentierphase befindet und uns, wie jeder Medienwandel, auch vor Herausforderungen stellt. Zwar sind schon erste Meilensteine gesetzt worden, doch um Grenzen, Formate und Erzählweisen des Mediums auszuloten, werden sich Journalisten auf diesem Gebiet in den kommenden Jahren in jedem Fall weiterhin noch ausgiebig erproben müssen, wobei der Blick in die Zukunft nicht allzu besorgt ausfallen sollte.
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